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Warum sollte in der Schule nicht die Grundschrift als durchgehende Schrift von der Erstschrift bis hin zur "persönlichen Schrift" unterrichtet werden?
(Werner Kuhmann)
Sie fragen, warum nicht auch Grundschrift als Ausgangsschrift in der Schule einzusetzen sein sollte, bzw., wenn ich das umdrehe, welche Argumente für eine verbundene statt einer unverbundenen Schrift sprechen.
Für die Qualität und Brauchbarkeit einer Handschrift gibt es zwei allgemein akzeptierte Kriterien:
die Geschwindigkeit/Flüssigkeit der Handschrift
die Lesbarkeit der Handschrift.
Ihre Frage war ja, was neben der Schreibgeschwindigkeit für eine verbundene Handschrift spricht. Bliebe also die Lesbarkeit:
Die Lesbarkeit einer Handschrift wird durch mehrere Aspekte bedingt, von denen ich
die Konventionalität der Einzelelemente (Buchstaben/Schriftzeichen) und
die Abständigkeit der Buchstaben/Schriftzeichen, das „Spacing“
herausgreifen möchte.
Konventionalität:
Bei geübten Schreibern hat die Verwendung von Druckschrift (DS) dann einen Vorteil, wenn z.B. möglichst gute Lesbarkeit, besonders auch Maschinenlesbarkeit gefordert ist. Diese Anforderung setzt gleichzeitig die Schreibgeschwindigkeit deutlich herab, das werden Sie von sich selbst beim Ausfüllen von Formularen kennen. In der Schule steht aber nicht das Ausfüllen von Formularen im Vordergrund (vielleicht außer für LehrerInnen zum Berichten an die „Obrigkeit“), sondern insbesondere ab dem 3. Jahrgang der Einsatz der Schrift für das persönliche Arbeiten und Lernen. Dazu muss die Handschrift im Vergleich zu den ersten beiden Jahrgängen beschleunigt werden. Wird eine Druckschrift – wenn sie noch nicht intensivst geübt worden ist – aber beschleunigt, so wird üblicherweise die Lesbarkeit durch Verformung der Buchstaben gemindert. Der gleiche Effekt tritt üblicherweise ebenfalls bei der Vereinfachten Ausgangsschrift (VA) ein, wenn sie beschleunigt werden soll (siehe dazu die Untersuchungen von Maria-Anna Schulze-Brüning, zu finden auf ihrer Webseite; Link dahin auf der Seite "Personen"). Die VA ist eher eine modulare Schrift als eine verbundene Schreibschrift. „Echte“ Schreibschriften sind genau auf diese Beschleunigung hin entwickelt worden, so dass sie dann weniger verformt werden.
Spacing:
Die Abstände zwischen den geschriebenen Zeichen sind für die Lesbarkeit eines Textes wichtig. Das sind
die Abstände der Buchstaben/Zeichen innerhalb eines Wortes, und
die Abstände zwischen den Wörtern.
Kinder müssen lernen, dass die Abstände innerhalb eines Wortes nicht nur geringer sein sollen als die Abstände zwischen Wörtern, sondern auch, dass sie innerhalb eines Wortes möglichst gering UND möglichst gleich sind. Das fördert die Lesbarkeit.
Bei Buchstaben innerhalb eines Wortes, die nicht verbunden werden, geraten die Abstände sehr schnell nicht einheitlich, insbesondere dann nicht, wenn Kinder (z.B. mit der Anlauttabelle) die zu einem Wort gehörenden Buchstaben einzeln suchen und schreiben. Verbundene Buchstaben machen es von vorneherein leichter, die Zusammengehörigkeit zu erkennen, sowohl für Leser als auch für Schreibanfänger. Die zwischen den Buchstaben eines Wortes geforderte Verbindung macht den Schreibanfängern das Wort als Ganzes deutlicher als das bei Einzelbuchstaben der Fall ist (das ist ein Wahrnehmungsaspekt, der sich psychologisch gut begründen lässt). Verbundene Schriften erfordern es geradezu, dass Kinder bei der Konstruktion eines Wortes dies „aus dem Kopf“ tun, also letztlich buchstabieren, und weniger die Buchstaben eines Wortes entsprechend seiner Lautung einzeln aus einer Tabelle (Anlauttabelle) Stück für Stück zusammensuchen. Dies kostet nämlich oft so viel Zeit und Aufwand, dass das Wort selbst dabei ganz in den Hintergrund gerät, weil der verbale Teil des Arbeitsgedächtnisses eine sowohl zeitlich als auch mengenmäßig begrenzte Kapazität hat.
Es geht also nicht nur um den „schreibtechnischen“ Zusammenhalt der Buchstaben, sondern um den wahrnehmungs- und damit bedeutungshaftigen Zusammenhang: trotz der Einzelbestandteile eines Wortes (Buchstaben) bildet das Wort eine hervorgehobene Einheit, die darauf hinweist, dass Wörter auch sprachliche und bedeutungsmäßige Einheiten sind. Auch beim Sprechen werden ja zwischen den Wörtern größere Pausen eingelegt als zwischen den Einzellauten, die eher fließend ineinander übergehen sollen (diese Analogie lässt sich Kindern aus meiner Sicht leichter vermitteln, wenn die geschriebenen ebenso wie die gesprochenen Wörter eine (fließend verbundene) Einheit bilden. In der Sprache beherrschen die Kinder das meist schon recht gut, im Schreiben normalerweise noch nicht. Je schneller sich am Beginn der Schriftlichkeit (also dann, wenn Kinder das Schreiben lernen) Wörter zu einem „Ganzen“ fügen, sowohl beim Schreiben als auch beim Sprechen und beim Lesen, desto vorteilhafter ist das für die Kinder. Das wird durch die Verbundenheit unterstützt, und zwar deutlich mehr, als wenn Kindern lediglich das „Angebot“ gemacht wird, dass sie ja verbinden können, wenn sie es wollen.
Häufig wird argumentiert, dass die durchgängige Verbundenheit innerhalb von Wörtern etwas ist, was nur in der Schule als „Zwangsmaßnahme“ vorkommt, denn geübte/erwachsene Schreiber würden ja auch nicht mehr durchgängig verbinden.
Es ist zwar richtig, dass die meisten geübten Schreiber auf der Schreibunterlage (Papier) nicht mehr durchgängig verbinden, sondern die Verbindungsbewegung „in der Luft“ machen (Luftsprünge). Die Schreibbewegung wird dadurch aber nicht unterbrochen, sondern eben fließend über dem Papier fortgesetzt. Schreiben ist ja letztlich nicht zwei- sondern dreidimensional. Dass solche „Luftsprünge“ der Entlastung der am Schreiben beteiligten Muskulatur dienen, lässt sich stark bezweifeln. Mir ist jedoch ein anderer Aspekt viel wichtiger:
Eine solche Argumentation ist eine „vom Ende her“, d.h. das bei Experten vorzufindende Endprodukt wird als das hingestellt, was Kinder von Anfang an üben sollten bzw. worin sie von Anfang an unterstützt werden sollten. Das gilt auch für die angestrebte Individualität der Handschrift: beide (Luftsprünge und individuelle Handschrift) sind Merkmale, die als Ergebnis eines langen und intensiven Übungsprozesses ganz von allein auftreten und somit eben „Expertenmerkmale“. Zu einem Expertenstatus gehört aber nicht nur die äußere Form (hier der Schrift), sondern eine gehörige Portion an Wissen und vor allem eine gute Struktur dieses Wissens. Das muss erst erarbeitet werden, dann erreicht man diesen Status. Deshalb können Lehrlinge nicht mit dem Meisterstatus beginnen!
Beide Merkmale, Luftsprünge und Individualität, lassen sich ja auch als Abweichungen von einer Norm auffassen. Betont man also am Anfang des Schreiberwerbs bereits solche Abweichungen als individuelle Merkmale, dann darf man sich auch nicht wundern, wenn diese Abweichungen im Laufe der Zeit größer werden. Das ist auch in der Expertenschrift so, es sei denn, der/die Expert/in gibt sich für einen konkreten Anlass entsprechend Mühe, die Abweichungen von der Norm möglichst gering zu halten. Toleriert man also größere Abweichungen von der Norm von Anfang an, wird sich diese Abweichung im Laufe der Zeit vergrößern, bis hin zur Unkenntlichkeit und Unlesbarkeit der Schrift - sogar für die Schreibenden selbst.
Die vorhergehende Argumentation ist insbesondere auf die Erwerbsphase der Schriftlichkeit gerichtet. Diese geht aus meiner Sicht zeitlich deutlich über die Grundschulzeit hinaus: Bei Untersuchungen zur Schreibgeschwindigkeit wurde ein Geschwindigkeitszuwachs bis ins Erwachsenenalter hinein festgestellt.
Und noch ein Argument: Es wird angenommen, dass Menschen, die verschiedene Schriftarten (also mindestens Druckschrift UND Schreibschrift) gelernt haben, leichter und besser in der Lage sind, andere Schriftarten zu lesen. Das ist ein Argument, das aus meiner Sicht eine Analogie zum Erwerb (und zur Differenzierung) von Sprachen herstellt: je mehr Sprachen man beherrscht, desto leichter lassen sich erfahrungsgemäß weitere Sprachen erlernen und desto besser kann man unbekannte Sprachlaute einer Sprachfamilie zuordnen.
Und ganz ehrlich: glauben Sie daran, dass Kinder in Deutschland mit dem Erlernen einer verbundenen Schrift überfordert sind und unnötig gequält werden, wenn man das mit dem Schrifterwerb in den sehr viel komplizierteren Schriften mit deutlich mehr Zeichen im arabischen oder chinesisch/japanischen oder indischen Schriftraum vergleicht?
Die Antwort stammt von: Dr. Werner Kuhmann, Diplompsychologe