Mangelhafter Handschrifterwerb – Darf es dabei bleiben?
Eine Positionsbestimmung der Allianz für die Handschrift.
Sie zerlegt einen hochkomplexen Zusammenhang so, dass annähernd erkennbar wird, was alles gründlich zu untersuchen, zu durchdenken und aufeinander zu beziehen ist, will man diese Frage sinnvoll beantworten.
Zur gegenwärtigen Situation
Man beklagt die schwindende Schreibfähigkeit heutiger Schulabgänger, meint mit Schreiben meist nur das Textverfassen und das Rechtschreiben und übersieht, welchen Anteil an diesen Fähigkeiten das Handschreiben als der sinnerzeugende Zugang zum sinnbezogenen Umgang mit Schriftsprachlichem hat.
Seit längerer Zeit lernen viele Kinder in unseren Grundschulen nicht so sicher, lesbar, flüssig und auch gerne mit der Hand zu schreiben, wie es nötig ist und wie es ihnen eigentlich auch möglich wäre. Damit wird ihnen ein Element grundlegender Bildung vorenthalten. Diese Situation beruht wesentlich auf Mängeln des Unterrichts. Deren Hauptursachen sind:
1.
Die geltenden Lehrpläne enthalten in Bezug auf das Handschreiben Weisungen, die sich in der Praxis als nicht ausreichend, als missverständlich und als irreführend erwiesen haben.
2.
SchulleiterInnen schaffen es nicht, in ihrer Schule angemessene Standards in Bezug auf die Handschrift der Kinder verbindlich zu machen. Manche versuchen das auch gar nicht.
3.
Viele LehrerInnen wissen nicht, welche Verantwortung sie für das Handschreiben der Kinder haben.
Sie wissen nicht, was sie verlangen und was sie tun müssten, um diese Verantwortung wahrzunehmen. Sie erkennen nicht, wo Fehlentwicklungen beginnen, wie sie korrigierend eingreifen könnten und wie gründlich zu üben wäre. Dafür fehlt ihnen die Ausbildung.
Um die Weisungen der Lehrpläne sinnvoll umzusetzen, müssten sie diese ergänzen und auch umdeuten aufgrund eigener Kenntnis der Sachstruktur der Schriftaneignung und eigener Beobachtung der lernenden Kinder.
Um die Kinder gut anleiten zu können, müssten sie selbst vorbildlich schreiben können. Das haben viele nie gelernt. Und sie wissen nicht, dass Kinder ein lebendiges Schriftvorbild brauchen und geben ihnen stattdessen ohne Bedenken nur gedruckte Schriften zur Nachahmung.
4.
Vor allem jüngere LehrerInnen überlassen die Entwicklung des Handschreibens der Kinder dem Selbstlauf. Sie ahnen nicht einmal, dass die Kinder sich dann ungünstige Haltungen und Schreibweisen angewöhnen können, die sich zu Behinderungen in allen mit dem Schreiben verbundenen Bereichen und schließlich zu lebenslangen Einschränkungen auswachsen können.
Sie vertrauen einer Didaktik des Schriftspracherwerbs, die behauptet, Kinder könnten sich das Handschreiben weitgehend selbstständig aneignen und würden durch eine Korrektur ihrer Schreibweisen vor allem frustriert und gehemmt. Diese Denkweise entzieht sich unter dem Einfluss pädagogisch/didaktischer Ideologie jedem Gegenargument.
5.
In Kontakten mit FörderlehrerInnen und TherapeutInnen, die Kindern zu helfen versuchen, bei denen eine Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Legasthenie festgestellt wurde, ergibt sich immer wieder, dass sie regelmäßig und zunehmend mit Kindern arbeiten müssen, die eine unsichere, anstrengende, schwer lesbare und frustrierende Handschrift mitschleppen. Diese defizitäre Handschrift erweist sich als eine wesentliche Ursache der Schwierigkeiten der Kinder, die oft erst überwunden werden können, wenn man mit dem Kind die brauchbare Schreibschrift erarbeitet hat, die es eigentlich schon seit Beginn der Grundschule hätte schreiben können, wenn es angemessen unterrichtet worden wäre.
6.
Eltern, welche die Fehlentwicklung der Handschrift ihrer Kinder mit Sorge beobachten und ihr entgegentreten möchten, werden zweifach hilflos gemacht: Den Eltern sind Didaktik und Schrift, nach der ihre Kinder unterrichtet werden, fremd. Ihre Kinder entziehen ihre Handschrift der Kritik der Eltern dadurch, dass sie behaupten, ihre Lehrerin sei mit dieser Handschrift zufrieden.
Andere Eltern treten LehrerInnen, welche die Handschrift ihrer Kinder angemessen fördern wollen, in den Weg. Gänzlich unaufgeklärt halten sie die Schreibschrift oder sogar das Handschreiben überhaupt für unmodern und darum überflüssig, weil sie selbst nur noch tippen.
7.
Entsprechend den Lehrplänen und den daran oder am eigenen Verkaufsinteresse ausgerichteten Verlagsprodukten dient die Druckschrift meist durch das ganze erste Schuljahr als Nutzschrift und wird so zur grundlegenden Handschrift. Wenn der Übergang zur Schreibschrift so spät erfolgt, wird dieser von den Kindern als Rückfall in Schreibunsicherheit und Schreibverzögerung erlebt.
Außerdem erleben viele Kinder beim Verfertigen der Schreibschrift eine motorische Behinderung, die sie nicht verstehen: Sie haben sich unangeleitet mit der Druckschrift Schreibweisen angewöhnt, die nicht in den nun geforderten Verbindungen aufgehen.
Aufgrund solcher Schwierigkeiten vermeiden Kinder die Schreibschrift, wo immer ihnen das möglich ist, und benutzen sie schon in der Grundschule zu wenig, um sie schließlich sicher und rasch schreiben zu können. Ohnehin reicht beim späten Schreibschrift-Beginn nach dem ersten Schulhalbjahr die Zeit bis zum Ende der Grundschule kaum noch aus, um in der Schreibschrift die dem KMK-Standard entsprechende Geläufigkeit zu erreichen.
8.
Im Westen Deutschlands ist in den meisten Ländern die Vereinfachte Ausgangsschrift VA die von Lehrern bevorzugte oder vom Lehrplan vorgeschriebene Schreibschrift. Dieses Schriftmodell suggeriert, eine leicht zu lernende Schreibschrift zu sein. Die VA ist aber eine modulare Schrift, also keine eigentliche Schreibschrift. Digital erzeugt wirkt sie zwar wie eine verbundene Schrift, sie ist aber aus Einzelbuchstaben zusammengesetzt. Schreibt man sie vorbildgetreu mit der Hand, muss man die Schreibbewegung nach jedem Buchstaben stoppen. So schreibt man ruckweise und langsamer als mit der bereits eingeübten Druckschrift.
Um dem im Unterricht geforderten Schreibtempo zu entsprechen, wird von Kindern die ursprünglich erlernte Druckschrift gewählt, wo das erlaubt ist.
9.
Beim Versuch, die Buchstaben der VA nicht mehr einzeln zu malen, sondern fließend und rasch zu verbinden – also flüssig zu schreiben – werden viele Buchstaben der VA sehr leicht bis zur Unlesbarkeit vereinfacht, verformt und verstümmelt. Dann ist das Schreibergebnis für Kinder und Erwachsene unbefriedigend. Auch das ist ein Grund, im Sinne von Lesbarkeit und Schönheit zur Druckschrift zurückzukehren, wo immer das erlaubt ist.
10.
Wird die Druckschrift zur endgültigen Nutzschrift, macht sie das Schreiben längerer Texte sehr anstrengend. Muss in höheren Klassen sehr schnell und viel geschrieben werden, rutschen die Buchstaben der Druckschrift ineinander oder sie werden bis zur Unlesbarkeit vereinfacht und verstümmelt. Damit geht auch die Lesbarkeit der Druckschrift verloren.
11.
Heutige Erwachsene mischen in ihrer Handschrift häufig Buchstaben der Druckschrift in ihre Schreibschrift. Das können sie sinnvoll und flüssig tun, weil sie in ihrem Schreibanfang eine echt verbundene Schreibschrift – im Westen Deutschlands die Lateinische Ausgangsschrift LA, im Osten die Schulausgangsschrift SAS – gründlich erlernt und automatisiert haben.
Diese Beobachtung hat Anhänger der Vereinfachung des Lernens zu einem Kurzschluss veranlasst. Sie fordern: Lasst Kinder ohne Umweg über eine umständliche Ausgangsschrift gleich so schreiben, wie sie später als Erwachsene sowieso schreiben werden, nämlich mit einfachen Buchstaben und nur wenigen Verbindungen.
Dieser Expertenansatz für heutige Schreibanfänger, an dem der Grundschulverband sein Grundschriftkonzept ausrichtet, übersieht oder missachtet, dass sich in anderen Ausbildungsbereichen längst vielfach bewiesenen hat, dass so ein kurzschlüssiger Weg sein Ziel nicht erreichen kann. Anfänger brauchen die an ihren Lernnotwendigkeiten ausgerichteten Ausgangsschriften, um daraus ihre individuell vereinfachte und trotzdem allgemein lesbare Handschrift entwickeln zu können.
11.
In jahrelanger schulischer und nachschulischer Schreibpraxis können sich aus echt verbundenen Ausgangsschriften wie der LA oder SAS gut lesbare, flüssige, flexible, rasch zu schreibende und schließlich auch persönliche Handschriften entwickeln, nicht aber aus modularen, vereinfachten Schriftmodellen wie Druckschrift, VA oder Grundschrift.
Zur Zukunft des Handschreibens
A
Wer nicht als Kind in der Grundschule eine flüssige und gut lesbare Schreibschrift erworben hat, mit der er sich gerne identifiziert und die er so weit automatisiert hat, dass er sie rasch, sicher und ohne kognitiven Aufwand schreiben kann, wird die Schreibschrift und dann auch das Handschreiben aufgeben, sobald das erlaubt ist.
Befördert wird diese Tendenz durch Routinen digitalen Schreibens im Alltag, die Lesbarkeit ohne Anstrengung bieten und dazu verführen, so wenig wie möglich mit der Hand zu schreiben. Auf diese Weise wird das Schreiben davon abhängig, dass immer und überall digitale Schreibgeräte bereitgehalten werden und funktionsfähig sind.
B
Damit geht die Schreibschrift und mit ihr die individuelle Handschrift als allgemein verfügbare kulturelle Errungenschaft und als alltägliche Möglichkeit ästhetischer Praxis für alle Schreibenden verloren.
C
Auch die Fähigkeit, unterschiedliche Schreibschriften zu lesen, geht verloren. Das macht sich schon heute in weiterführenden Schulen bemerkbar, wo manche Kinder den Tafelschriften oder Korrekturen ihrer LehrerInnen hilflos gegenüber sitzen.
D
Verloren geht auch die Fähigkeit, handschriftliche Zeugnisse früherer Generationen zu lesen. Das zerschneidet den unmittelbaren, lebendig warmen Kontakt zu den Vorfahren in der eigenen Familie und zu historischen und kulturellen Quellen.
E
Welche Lernmöglichkeiten in Bezug auf optische Wahrnehmung, mentale Flexibilität, komplexe Sachverhalte, eigene und fremde Sprachen, schriftlichen Ausdruck, tiefgründiges Lesen, Feinmotorik, Selbstreflexion und künstlerischen Ausdruck verloren gehen, wenn unsere Kinder nicht mehr den Bildungsprozess durch einen sorgsamen, grundlegenden und gründlichen Schriftunterricht durchlaufen, beginnen wir erst allmählich zu begreifen.
F
Privatem Schreiben, das der Selbstvergewisserung und Selbstverständigung und der intimen Mitteilung dient, in allen Lebensumständen mit lediglich Stift und Papier möglich ist und nicht digital ausgespäht werden kann, wird die Grundlage entzogen.
Jetzt notwendig
Wenn heute im Rahmen neuer Lehrpläne und Lehr-/Lernkonzepte über den künftigen Schrifterwerb von Kindern in der Grundschule entschieden wird, muss berücksichtigt werden, welche kurzfristigen und langfristigen Entwicklungen damit eingeleitet oder verfestigt werden.
Wollen wir diese Entwicklungen?
Dürfen wir sie riskieren?
Darüber ist eine breite öffentliche Debatte zu führen, die Erkenntnisse aller relevanten Wissenschaften und gesellschaftlichen Gruppen einbezieht und den vielfältigen Bildungswert eines sachgerechten und gründlichen Handschrifterwerbs erkennbar macht.
Damit würde endlich die Meinungsbildung zum Thema Schrifterwerb der Dominanz einer ideologisch geprägten Gruppe entzogen, die den Grundschulverband als ihr Sprachrohr benutzt und von da aus mit aggressiver Propaganda und bequemem Konzept mit fertigem Lernmaterial eine höchst anspruchslose „Grundschrift“ als angeblich zeitgemäße Neuerung durchzusetzen versucht und noch gänzlich unbeholfen gekritzelte Kinderschriften schon als persönliche Handschriften adeln möchte.
Mai 2015 im Namen der Allianz für die Handschrift e.V.:
Ute Andresen
Giselastr. 11, 80802 München * T/F: 089-335422 * Andresen-Ute@web.de
Dr. Peter Igl
Karwinskistr. 45, 81247 München * T: 089-880214 * peter.igl@web.de
Dr. Werner Kuhmann
Zunftstr. 5, 42119 Wuppertal * T: 0202-3723377 * kuhmann@uni-wuppertal.de
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