Ute Andresen
Notizen für LRS/Legasthenie-TherapeutInnen
nach meinem Workshop in Göttingen am 10.10.2014
Schönheit tröstet
Therapeuten sollten Verbündete des Kindes sein und das auch dadurch einladend sichtbar
machen, dass die Hefte, Schreibgeräte, Papiere und Formate in der Therapie anders, besser,
ästhetischer und interessanter sind als die Dinge, die mit den Misserfolgen und dem Kummer in der Schule verbunden sind.
Schreibdruck und Schreibgeräte
Kinder drücken beim Schreiben auf, um die Schreibbewegung besser zu spüren und zu
kontrollieren. Dadurch wird das Schreiben anstrengend und auch schmerzhaft. Dagegen hilft:
Schrifterwerb und therapeutischer Ansatz
1.
Man sollte wissen, was eine gute Grundlegung des Schrifterwerbs ausmacht, z.B. Andresen:
„Mit Kindern ihre Handschrift entwickeln“.
2.
Erkunden, nach welchem Konzept und mit welchem Erfolg der Schrifterwerb des Kindes im
ersten Schuljahr verlief. Dafür sollte man sich z.B. Fibel und Arbeitshefte zeigen lassen.
3.
Aus der Diskrepanz von 1. und 2. ableiten und im Verhalten des Kindes erkennen, was fehlte
im Schriftunterricht oder darin schiefgelaufen ist. Davon ausgehend den therapeutischen Ansatz modulieren bzw. verstehen, was dem Kind in der Therapie besonders nottut bzw. schwer fällt und was
jeweils als Gewinn oder Sieg zu feiern ist.
4.
Nicht vergessen, dass die tief sitzende kognitive Verwirrung und Buchstabenunsicherheit
vielleicht zu überformen, aber kaum je ganz zu tilgen ist. Sie kann unter Stress wieder durchbrechen. Guten Umgang mit solchem Stress bzw. mit dem eventuellen Zusammenbruch der neuen Sicherheit
vorbereiten.
5.
Die Schriftflüchterei, die sich in den alten Niederlagen und Unsicherheiten gebildet hat,
umkehren durch positive Erfahrungen mit Schrift. Auch von älteren Kindern kann man sich ihre Texte zunächst diktieren lassen und sie als Therapeutin sehr schön und mitsprechend schreiben.
Das erweist derAufgabe, die das Kind zu bewältigen hat Respekt und bietet dem Kind zugleich ein Modell für das, was es lernen wird. - Die Stunde einleitend oder sie beendend?
6.
Alle Kinder schreiben gerne, wenn sie für ihre Schreibbewegungen das eigene Tempo
gefunden haben und ihre Bewegungen immer besser koordiniert und „schlanker“ werden, d.h. mit immer weniger Muskel-und Kraftaufwand verbunden sind, weil der Bewegungsapparat „erkennt“, dass mehr nicht
nötig ist. Der Übergang zur Schreibschrift in der Schule sollte mit der Suche nach diesem eigenen Tempo verbunden sein, besonders für Jungen. Sie schreiben oft zu hastig und wissen nicht, dass sie
sich damit selbst behindern.
7.
In der SAS (Schulausgangsschrift) ist das prägende Element der Grundstrich, das ist der Strich von oben schräg nach unten links, der in fast allen Buchstaben vorkommt. Wenn man ihn betont, wird die
Schrift rhythmisch. Der Rhythmus trägt die Bewegung und macht das Schreiben leichter, weniger anstrengend, im besten Fall meditativ, also erholsam und nach innen ordnend.
Stifte mit rechteckiger Mine (Schreinerbleistifte) und Kalligraphiefilzstifte machen die Betonung des Grundstrichs deutlich sichtbar.
Schriftprobleme in den Buchstaben erkennen und überwinden
Wenn man in der folgenden Tabelle der Häufigkeiten diese mit den Kindern zusammen betrachtet und in Beziehung setzt zu den Buchstaben ihrer eigenen Schrift, könnte es sie motivieren, sich konsequent um mehr Lesbarkeit zu bemühen, d.h. eine neugelernte Schreibweise auch immer anzuwenden.
Buchstabenhäufigkeit in deutschen Texten in Prozent
| e | 17,4 | u | 4,35 | k | 1,21 |
| n | 9,78 | l | 3,44 | z | 1,13 |
| i | 7,55 | c | 3,06 | p | 0,79 |
| s | 7,27 | g | 3,81 | v | 0,67 |
| r | 7,00 | m | 2,53 | j | 0,27 |
| a | 6,51 | o | 2,51 | y | 0,04 |
| t | 6,15 | b | 1,89 | x | 0,03 |
| d | 5,08 | w | 1,89 | q | 0,02 |
| h | 4,76 | f | 1,66 |
Da die Buchstaben mit Unterlängen sehr wichtig sind für die Lesbarkeit der Handschrift und wenig zahlreich sind – f g j p q y – könnte es sinnvollsein, mit ihnen die Veränderung der Problembuchstaben zu beginnen.
Die Probleme bei diesen Buchstaben entstehen wahrscheinlich im Zusammenhang mit der Druckschrift, die die Kinder überall lesen bzw. die sie selbst auch ähnlich schreiben.
-Sehr häufig sind die Unterlängen in der DS sehr flach und unauffällig.
Vergleiche Computerschriften: Geneva g/ Helvetica g/ Comic g/ Arial g / Times g
Das g der Times ist da, weil eindeutig, eher hilfreich als zu kompliziert.
Von Kindern wird das g häufig wie die 9 auf die Schreiblinie gesetzt, weil sie die Unterlänge nicht verstanden haben bzw. ihnen deren Vorhandensein und Bedeutunggar nicht bewusst ist.
-Die F-Minuskel hat in der Druckschrift gewöhnlich gar keine Unterlänge, ist dann ohne Unterlänge so weit automatisiert, dass sie auch in der Schreibschrift weg gelassen wird.
Vergleiche Computerschriften: Geneva f/ Helvetica f/ Comic f/ Arial f / Times: f
-P und p sind der Form nach extrem ähnlich, eine klare Unterlänge unterschiede sie besser.
Vergleiche Computerschriften: Geneva Pp/ Helvetica Pp/ Comic Pp/ Arial Pp / Times: Pp
Kinder mitebenmäßiger Schrift sind vielleicht zu langsam und malen Schrift statt zu schreiben. Die VA lässt sich, wenn sie nicht gegen ihren eigentlichen Charakter von Anfang an in fließender Verbindung gelernt wurde, nicht beschleunigen, ohne aus der Form zu geraten. Es könnte sein, dass manche Kinder sich an das schöne Schreiben= Malender VA klammern und darum für den Unterricht ab Klasse 3 zu langsam sind. Wenn sie dann im Test schneller schreiben müssen, bedeutet das maximalen Stress und die Rechtschreibung bricht zusammen. (Das ist eine Vermutung; im Einzelfall wäre zu prüfen, ob darin eine sinnvolle Erklärung für individuelle Rechtsschreibprobleme steckt.) Das Langsamschreiben kann auch eine Gewohnheit geworden sein, mit der Angestrengtheit vermieden wird.
Reihenfolge für den Buchstaben e : eae ebe ece ede efe ege ehe ...... eze
Die drei Buchstaben sind natürlich verbunden zu schreiben.
Wenn die alphabetische Reihenfolge stockt, den Mittelbuchstaben vorsagen!
Variation: Das Kind wiederholt jede Kombination bis die flutscht und es „satt“ davon ist und nach der nächsten verlangt. So zu üben entlastet von allen nichtmotorischen Anforderungen und dient
spürbar der Automatisierung.
Ermutigung
Für Kinder, die unter ihren Schwierigkeiten mutlos geworden sind und glauben, dass mit ihnen selbst etwas nicht in Ordnung ist, kann es entscheidend sein, dass sie erkennen: Manche meiner Probleme
wurzelndarin, dass
a) die Schrift wie die Rechtschreibung teilweise tückisch ist.
b) man mir im Unterricht manches nicht rechtzeitig verständlich erklärt hat, was doch wohl gemein ist, nun aber behoben werden kann.
Beide Erkenntnisse können Probleme zum Gegenüber machen, mit dem man kämpfen kann.
Schreibtempo und Lineatur
Wenn jeder neu zu formende Buchstabe zunächst nicht in die Lineatur geschrieben, sondern ohne Linienauf Schiefertafel oder Papier geklärt und eingeübt wird, ist das eine Situation mit reduzierter
Anforderung. Die Koordination der Bewegung gelingt leichter, wenn der Spielraum für die Bewegung nicht eingegrenzt ist. So lässt sich auch mit der Größe experimentieren, womit man die
Bewegungsgestalt zusätzlich klärt.
Auch mit demTempo lässt sich spielen und dabei kann man erkunden, wann die Form aus
den Fugen gerät, weil die Bewegung zu schnell geworden ist.
Die sichere Bewegung in subjektiv angemessenem Tempo auf der Fläche ohne Linien kann
eine empfundene Zielvorstellung für das Schreiben in derLineatur sein.
Besonders Jungen schreiben oft zu hektisch und können darum ihre Schreibbewegung nicht
geschmeidig steuern. Ihnen kann „Zeitlupenschreiben“ helfen. Der Begriff ist attraktiv, er ist mit genauer Beobachtung verknüpft. Verlangsamt –aber auch nicht zu langsam –können die Kinder bessere
Buchstabengestalten und –verbindungen ausformen, die dann hoffentlich auch zur Gewohnheit werden. Vor allem aber scheint es sie zu ermutigen, dass sie selber etwas hinbekommen, was so aussieht, wie
es aussehen soll. Damit ist bewiesen, dass es in ihnen steckt und herausgelockt werden kann.
Wenn man sich Mühe gibt und die Schrift gelingt, wird sie doch plötzlich auf geheimnisvolle Weise wieder unschön. Für mutlose Kinder wirkt das wie ein Verhängnis. Meist liegt das daran, dass sie im
Vertrauen darauf, dass sie es nun können, unwillkürlich schneller und dann auch zu schnell geschrieben haben. Es könnte helfen, dass sie die Ursache des Misslingens erklärt bekommen und dann auch
selbst erkennen: Dann können sie versuchen, ihr Tempo bewusst zu drosseln, und erleben, wie daraufhin das Können zurückkehrt.
Mit der Zeit muss jeder herausfinden, wie er Schreibtempo und Schriftqualität aufeinander
abstimmen kann. Das gelingt umso besser, je mehr die Schrift in optimalen Formen und
Verbindungen eingeübt und auch schon ansatzweise automatisiert ist.
Kindern, die in der Schule Mühe haben, Texte, die sie zum Lernen brauchen, schnell genug
mit-oder abzuschreiben, könnten lernen, sich mit Abkürzungen zu helfen. Dann können sie
den Text daheim ins Reine schreiben. –Man sollte aber nicht vergessen, ihnen zu erklären,
dass sie einSchreibtrainingsdefizit haben, das sie so aufholen können.
Tagebuch
Um eines Tages geläufig zu schreiben, muss man vor allem viel schreiben. Am persönlichsten und wohl auch am sinnvollsten ist es, dafür Tagebuch zu schreiben. Da verbietet sich jede Kritik von außen,
das tut man nur für sich und es geht niemanden etwas an, was da steht und wie es aussieht, wenn man es nur selber lesen kann.
In der Schule funktioniert das, wenn es eine regelmäßige Zeit gibt, in der nichts anderes getan werden darf, als irgendetwas ins Tagebuch zu schreiben oder nur dazusitzen und sich zu langweilen.
Die Regelmäßigkeit bewirkt, dass man sich vorher schon mal vornimmt: Das
schreib ich in mein Tagebuch!
Vielleicht funktioniert das auch als Hausaufgabe für Therapiekinder. Sobald ein wenig Zeit
vergangen ist, kann man sich beim Lesen der Einträge schon wundern: Wenn ich das nicht
aufgeschrieben hätte, würde ich mich nicht mehr daran erinnern. Das motiviert dann, weiter
Tagebuch zu schreiben.
Für Jungen könnte der TV-Schauspieler Charly Hübner ein Vorbild fürs Tagebuchschreiben
sein. In einem Interview in derSüddeutschen Zeitung hat er erzählt, wie er sich selbst damit
hilft: "... ich war einfach durch. Das hielt ein gutes Jahr an. Ich wusste nicht weiter, ich hab ja nichts anderes gelernt, bin Schauspieler, seit ich 17 bin. Da habe ich unglaublich viel Tagebuch
geschrieben, um herauszufinden, was der Sinn von Theater sein sollte. Das war existenziell.
Wie lautet etwa so ein typischer Eintrag von damals?
Sitze hier auf einem Felsen, frage mich mal wieder, warum Theater, fühle mich
beschissen. Kein Geld.“
Man muss also nichts Großartiges aufschreiben.