Zur Debatte über die Schrift
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Zur gegenwärtigen Situation des Handschreibens
Ausgangslage
„Handschreiben“ meint üblicherweise eine 'Schreibschrift', geprägt durch die flüssige Verbindung wenn nicht aller, so doch der meisten Buchstaben in einem Wort. Das ist die Art und Weise, auf welche die meisten Menschen das Schreiben gelernt haben. Im Laufe der Zeit wurde dann aus der (vollständig verbundenen) Anfangsschrift eine mehr und mehr individuelle Schrift, die als Ergebnis langjähriger Übung im Gebrauch typische 'Vereinfachungsmerkmale' aufweist: die Buchstaben eines Wortes werden nicht mehr vollständig verbunden, weil die Schreibbewegung an diesen Stellen „in der Luft“, also ohne Kontakt der Schreibspitze mit der Unterlage, fortgeführt wird; Die Schreibbewegung selbst wird dadurch nicht unterbrochen. Unterbrechungen im geschriebenen Produkt entstehen zwansläufig dann, wenn z.B. bei einem 'i' im Wort der I-Punkt direkt aufgesetzt wird oder bei einem 't' der Querstrich (Lateinische Ausgangsschrift) und nicht erst nach Abschluss des ganzen Wortes. Oft werden auch groß geschriebene Anfangsbuchstaben durch Buchstaben der Druckschrift ersetzt. 'Erforderlich' ist für diesen Entwicklungsprozess aber nicht explizite Unterweisung sondern lediglich fortgesetzte Übung durch Gebrauch der Schrift.
Position 1: "Schreibschrift/Handschreiben ist eigentlich überflüssig"
Ohne Zweifel sind seit langem schon Gebrauch, Achtung, Anleitung und Übung des Handschreibens immer mehr zurückgegangen. Viele Handschriften sind entsprechend unbeholfen, verwahrlost, unlesbar und den Schreibenden peinlich. Ein in diesem Zusammenhang oft gehörtes Argument ist sinngemäß, dass Handschreiben ein „Relikt“ aus dem Vor-Computer-Zeitalter ist, ein „Dinosaurier“, dessen Existenz eben durch Besseres, nämlich Schreiben mit Computer, Notebook, Tablet und auch Smartphone berechtigterweise bedroht ist. Man schreibe ja nur noch kurze Notizen oder Einkaufszettel. Eine Schlussfolgerung aus dieser Argumentation ist, dass Unterricht im Handschreiben nicht mehr so wichtig ist und auf das Nötigste beschränkt werden kann.
Darüber hinaus kennt jeder Erwachsene mindestens ein Beispiel dafür, dass Kinder mit dem traditionellen Schreibunterricht „gequält“ wurden. Peter Praschl, der im Jahr 2012 52 Jahre alt war, hat dies in seinem Beitrag für das Magazin der Süddeutschen Zeitung (Nr. 6, 10. Februar 2012, S. 28-30) für sich selbst formuliert. Er musste als Linkshänder die österreichische Schulschrift mit der rechten Hand schreiben. Wörtlich schreibt er: „Wenn es denn so ist, dass Menschen fast alles, was sie schreiben, lieber per Tastatur als mit einem Stift erzeugen, welchen Sinn hat es noch, Kindern das Schönschreiben beizubringen - statt ihnen Tastaturkompetenz zu vermitteln? Schließlich ist das Schreibenlernen eine Qual, man muss den Kleinen ja nur zusehen, wie sie sich anstrengen müssen, um die Schlingen im Zaum zu halten oder das Papier nicht aufzuritzen. Manchmal hat man bei den Kämpfern für die Schreibschrift das Gefühl, es geht ihnen genau darum: dass Sechs-, Sieben-, Achtjährigen nicht schon wieder etwas abgenommen wird, das man nur meistern kann,wenn man sich der Disziplin unterwirft. Bekanntlich ist es ja die 'Disziplin' die den verwöhnten Kindern von heute am allermeisten fehlt“.
Position 2: "Schreibschrift/Handschrift vermittelt wichtige Zugänge zur Schriftlichkeit"
Dagegen steht die Position,
dass mit dem Handschreiben der Zugang zur Schriftlichkeit verbunden ist und es deswegen möglichst differenziert und in verschiedenen Varianten unterrichtet und gefördert werden muss,
dass das Handschreiben insbesondere in der Schule und nachfolgenden Ausbildungsgängen (Lehre, Studium) eine eminent wichtige Funktion für das Lernen hat,
dass die Kompetenzen im Handschreiben und im Lesen miteinander gekoppelt sind, wobei der Schrift die "Führung" zukommt,
dass gutes Handschreiben die persönliche Entwicklung fördert,
dass Handschreiben einen wichtigen Zugang zu den Traditionen unserer Kultur darstellt.
Ganz im Sinne der ersten Position wirbt der Grundschulverband für die sog. „Grundschrift“, die eine Druckschrift ist. Unter der Devise „Die Grundschrift als Schreibschrift von Anfang an“ (siehe: http://www.grundschulverband.de/fileadmin/bilder/Publikationen/Zeitschrift/GS-SPEZIAL_Grundschrift_neu_130807-Web.pdf;
zuletzt eingesehen am 20.06.2014) wird argumentiert, dass es ausreicht, wenn Kinder diese eine Schrift (Druckschrift) beherrschen und dann, wenn sie es möchten, die Buchstaben eines Wortes teilweise auch mit Häkchen verbinden.
Für die zweite Position wirbt die Allianz für die Handschrift und beruft sich dabei insbesondere auf internationale wissenschaftliche Literatur zum Handschreiben. Statt auf den bei Erwachsenen feststellbaren geringen Gebrauch der Handschrift und auf ihre Form richtet sich die Argumentation auf die oben genannten Funktionen der Handschrift, insbesondere in der Schule.
Wie wird für die unterschiedlichen Positionen argumentiert?
Position „Schreibschrift ist eigentlich überflüssig“
Neben dem Hinweis darauf, dass die Handschrift nur noch wenig in Gebrauch ist, gilt das Modell erwachsener Schreiber als Argument, dass eine verbundene Schrift nicht gelernt werden muss, da sie ja ohnehin bei den erwachsenen Experten nicht mehr auftritt. Weiterhin wird argumentiert, dass der Erwerb einer zusätzlichen 'Schreibschrift' die Kinder nur unnötig belastet: „Kinder lernen drei Schriften, das muss nicht sein“ (Hans Brügelmann in einer Replik auf den Vorwurf, dass Hamburg die Schreibschrift abschaffen wolle; die drei Schriften sind nach Brügelmann: Druckschrift, Schreibschrift und persönliche Handschrift. Hamburg hat im Jahr 2011 als eines der ersten Bundesländer die Grundschrift als Schulschrift eingeführt; in den Hamburger Lehrplänen zur Schreibausbildung in der Grundschule wird nur die Grundschrift erwähnt). Brügelmann beruft sich dabei auch darauf, dass in manchen Ländern, z.B. USA, Kinder seit längerem nur noch die Druckschrift erlernen. Viel wichtiger als eine Handschrift sei flüssiges Schreiben auf der Tastatur.
Position „Schreibschrift ist wichtig“
Mit der Hand zu schreiben fördert den Zugang zu den Zeichen der Schrift und zum Erkennen von Wörtern sowie zum Rechtschreiben deutlich besser als Tippen. Das belegen Untersuchungen an Kindern im Kindergartenalter und auch an älteren Kindern (vgl. dazu den Vortrag von Werner Kuhmann unter "Beiträge der Allianz) und das sollte man auch ernstnehmen. Buchstaben selbst zu schreiben ist ein ganzheitlicher motorischer und kognitiver Akt, der sich vom Tippen in wesentlichen Punkten unterscheidet. Das bedeutet nicht, dass "Tippen" etwas ist, das man nicht erwerben sollte. Vielmehr geht es darum, vor dem Tippen das (verbundene) Handschreiben so zu erwerben, dass es die bestmögliche Basis für alle weiteren Schritte des Einstiegs in die Schriftlichkeit ist. Tippen auf der Basis einer unsicheren Beherrschung der Schrift kann letztlich nicht befriedigend gelingen.
Wörter verbunden zu schreiben bedeutet im Vergleich zur Druckschrift, dass sie stärker als "Ganzheit" wahrgenommen werden und so die Wörter und nicht die Einzelbuchstaben im Vordergrund stehen. Das fördert nicht nur deren "richtige Schreibung" sondern auch das Lesen.
Schreiben kann auch nicht „vom Ende her“ betrachtet werden, d.h., dass es für die Frage, ob verbundene, teilverbundene oder unverbundene Schrift in der Grundschule unterrichtet werden soll, unerheblich ist, ob in der Schrift erwachsener Schreiber („Experten“) sog. Luftsprünge und damit teilweise Unverbundenheit auftreten oder nicht. Wenn es so ist, dass bei praktisch allen Experten nicht mehr alle Buchstaben eines Wortes verbunden werden, dann ist dies ja ein Ergebnis der weiteren Schreibpraxis und nicht das Ergebnis einer expliziten Instruktion. Eine Unterrichtung in unverbundenem Schreiben, wie es bei der Grundschrift letztlich der Fall ist, versucht also, die Schreibentwicklung „vom Ende her“ einzuleiten. Das ist etwa so, als ob man sich die Schuhe nur noch locker zubindet, weil sich die Schuhbänder im Laufe der Zeit ohnehin lockern. Das Ergebnis wird sein, dass man ziemlich bald über die eigenen Schuhbänder stolpert!